Samstag, 5. Mai 2012

Anmerkungen zu M. Kotin, Gotisch, Heidelberg 2012

In diesem Beitrag werde ich Anmerkungen zum neu erschienen Buch von Michail L. Kotin, Gotisch. Im (diachronischen und typologischen Vergleich, Heidelberg 2012 geben, die ich im Verlaufe meiner Lektüre immer weiter ergänzen werde. Dies scheint mir notwendig zu sein, da in diesem Buch Fragen zur historisch-vergleichenden Grammatik auf eine Art und Weise behandelt werden, die fassungslos macht, wobei meine Sorge ist, dass die in dem Buch vertretenen Ansichten durch die Publikation in diesem Verlag und in der Reihe salonfähig werden und (vor allem in Germanisten-Kreisen) weiterer Verbreitung finden könnten.

S. 13, Anm. 3 (auf den S. 421f.): Der Unterschied in den gr. Schreibungen zwischen -ou- und -u- wird auf Wurzelablaut zurückgeführt - es liegt vielmehr eine vielfach vorkommende graphische Varianz bei der Wiedergabe von germ. -u- vor. Wie aus dem Text auf S. 13 zu entnehmen ist, meint Kotin wohl eher die Namensform der Gauten, die in Ablaut zu der der Goten steht.
S. 14: germ. *terva (bei den Stammansätzen fehlt regelmäßig im Buch das -) ist nicht - wie suggeriert - die Vorform von got. triu, etc., die auf urgerm. *trewa- zurückgehen.
S. 18, Anm. 6 (S. 422f.): Wenn angenommen wird, dass die Schreibung Ulfila ohne anlautendes W- entweder eine nordgermanische Variante des Namens ist oder eine Art Kosename, wird übersehen, dass es sich dabei um eine Transkription der griechischen Namenslautung handelt (der Schwund des anlautenden w- vor u im Nordgerm. ist deutlich später, für den Verlust des anlautenden w- bei einem Kosenamen, hätte man gerne Parallelen gehabt, die vermutlich schwer beizubringen sind).
S. 19, Anm. 10 (S. 423f.): Das got.-lat. Gießener Fragment ist verschollen und somit nicht mehr in Gießen vorhanden; die Behauptung, dass das Fragment keine Aufnahme in Streitberg gefunden hat, ist nicht zutreffend - es findet sich im Nachtrag zum ersten Band.
S. 22: Ob die Eigenbezeichnung Guten als Beleg für ein frühes Auftreten der Vokalverengung oder der Konsonantenerhärtung angeführt wird, bleibt offen; es ist als Beispiel für beides ungeeignet.
S. 23: Wenn die Lautung -jan bei den sw.V. I damit erklärt wird, dass das Gotische die ursprüngliche Form des Suffixes behält, während das Suffix im Westgerm. reduziert wird und das sonantische Element verliert, wird die hierfür relevante Westgerm. Konsonantengemination mit der damit verbundenen Silbengrenzenverlagerung, die für den dann nachfolgenden Schwund von -j- verantwortlich ist, nicht erwähnt. Die ahd. Formen ner(r)ien, neren sollten in nerien, nerren geändert werden.
S. 29: Bei der Auflistung von Beispielen, die "Beibehaltung der Vokallänge in unbetonten Sibe" zeigen, wird übersehen, dass diese nicht parallel sind, da bei gib-ô-m eine ganze Endsilbe geschwunden ist (anders als bei wulfê)
S. 30: Dass Kürzen angeblich ohne weiteren Grund in manchen Formen synkopiert sind (dags < *dág-a-z), in anderen dagegen nicht (dágis < *dag-é-s), ist nicht richtig (und hat auch nichts - wie suggeriert - mit dem Akzentsitz zu tun) - die Gen.-Form geht auf *dages/za zurück, wobei das -e- wegen des nachfolgenden -a erhalten geblieben ist.
S. 36: Durch die Formulierung wird suggeriert, dass die Schreibung für /î/ (trotz griechischer Vorlage) einen Reflex des alten Diphthongs zeigen würde - im Griechischen war jedoch altes /ey/ zu /î/ geworden, die im Griechischen historisch beibehaltene Graphie ist im Got. zur Wiedergabe von got. /î/ übernommen worden.
S. 37: Ob die Schreibung für die Aufhebung "der Opposition zwischen Kürzen und Längen" zeigt, ist ungewiss - es könnte sich um eine lateinisch beeinflusste Schreibung handeln (vgl. Schreibungen wie für ).
S. 38: piskus, recte piscis; *gast-é-s, recte *gastes/za.
S. 39: Niemand geht mehr von einem überkurzen epenthetischem Vokal Schwa secundum bei den silbischen Resonanten im Uridg. aus.
S. 40: Das u von filu und faihu geht natürlich letztendlich auch auf eine Schwundstufe zurück.
S. 40-41: Der Ansatz eines Schwa primum in Wörtern stellt eine Indogermanistik von vor 50 Jahren dar.
S. 42: Der Ansatz uridg. *suîn- 'Schwein' ist sehr abenteuerlich. Beim Ausfall von Nasal scheint der ältere Ausfall in der Gruppe *Vnχ mit späteren Ausfällen im Nordseegermanischen in einen Topf geworfen zu sein.
S. 42ff.: Die Verbindungen uridg. *VHK, die Langvokale zur Folge haben, werden generell ignoriert.
S. 43, Anm. 36 (S. 434): Wenn für die Entwicklung von *ê > â im Nordisch-Althochdeutschen das 4.-6. Jh. angegeben wird, wird der runische Beleg -mâriz < *mêrijaz aus dem 2. Jh. übersehen. Im Altenglischen liegt eher eine Rückwandlung vor als ein beibehaltener Archaismus.
S. 44: Warum der Zusammenfall in a (< *o, *a) und ô (< *â, *ô) kein echter Lautwandel ist, sondern "idioethnisch-artikulatorisch bedingt" sein soll, bleibt unklar.
S. 47: Bei der schwierigen Erklärung langer und kurzer Auslautvokale wird die Silbenzahl nicht berücksichtigt (wulfe in zweiter, tawida < *-dôn in dritter Silbe).
S. 47-48: "Auch vor dem Konsonanten s, wo das Gemeingermanische den Ausfall des kurzen stammbildenden Vokals a bzw. i kennt, wird dieser im Gotischen synkopiert", recte "nicht kennt".
S. 49: Der Vokal *e wird lediglich vor r in der unbetonten Mittelsilbe zu a. Was daran ein "idioethnischer spontaner Lautwandel" sein soll, bleibt unklar. Dass das e vor r offen ausgesprochen wurde (sogar in erster Silbe), geht auch etwa aus lat.-germ. Arminius hervor.